Infektion, Invasion, Inflation: Die Armen im Ausnahmezustand | Blätter für deutsche und internationale Politik

2022-09-16 21:15:05 By : Ms. Holly Hou

Wer mit Gas heizt, kann sich auf einen harten Winter gefasst machen. Denn es kommen erhebliche Mehrkosten auf ihn oder sie zu. Um Pleiten bei den Versorgern zu verhindern, wird ab Oktober eine Umlage von rund 2,4 Cent pro Kilowattstunde Gas erhoben. Damit entstehen etwa für einen Vierpersonen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden Mehrausgaben in Höhe von 480 Euro – zusätzlich zu den extrem ansteigenden Gaspreisen. Mit den rasant wachsenden Energiekosten droht zudem ein erneuter Anstieg der ohnehin hohen Inflationsrate – hauptsächlich zulasten von Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Das reiht sich ein in die Entwicklungen der jüngsten Zeit: Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen vieler Millionen Menschen in Deutschland zum Teil drastisch verschlechtert, weil sich die gesellschaftlichen Krisen häuften und gleichzeitig verschärften. Dies gilt besonders für einkommensarme und armutsgefährdete Gruppen, weil ihnen im Unterschied zu wohlhabenden Bevölkerungskreisen keine finanziellen Rücklagen zur Verfügung stehen. Die inflationären Tendenzen setzten mit der Covid-19-Pandemie und dem ersten bundesweiten Lockdown ein und verschärften sich mit Russlands Invasion der Ukraine sowie den westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Moskau. Nahrungsmittel, Strom und Heizenergie waren dabei die Hauptpreistreiber.

Wie fast alle Pandemien traf die Coronakrise finanzschwache Personengruppen, die oft auch eher immunschwach sind, besonders hart: Nicht erst seit dem russischen Überfall am 24. Februar stiegen die Lebenshaltungskosten stark an.[1] So betrug die Inflationsrate im Dezember 2021 bereits 5,3 Prozent, was bis weit in die Mittelschicht hinein zu Existenzsorgen führte. Umso mehr gilt dies für jene 13,8 Millionen Menschen, die von (relativer) Armut bedroht sind, also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Die höchsten Armutsrisiken weisen Erwerbslose, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationsgeschichte auf. Kinder und Jugendliche sind ebenfalls stark betroffen. Zugleich nimmt seit geraumer Zeit das Armutsrisiko bei Senior*innen im Vergleich zu anderen Gruppen am stärksten zu. Ausgerechnet sie bleiben bislang auch bei der im September auszuzahlenden einmaligen Energiepreispauschale von 300 Euro außen vor, obwohl sie täglich rund um die Uhr ihre Wohnung heizen müssen.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe September 2022. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.

In der Coronakrise haben Bund, Länder und Gemeinden zwar fast über Nacht enorme Summen für direkte Finanzhilfen, Ausfallbürgschaften und Kredite mobilisiert, doch kamen diese in erster Linie großen Unternehmen zugute. Kleinunternehmer*innen wurden überwiegend mit einmaligen Zuschüssen unterstützt, die ihre laufenden Betriebskosten decken sollten, aber nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verwendet werden durften. Freiberufler*innen, Soloselbstständige und Kleinunternehmer*innen, die Sofort-, Überbrückungs-, Notfall- oder Neustarthilfe beantragten, hatten große bürokratische Hürden zu überwinden. Teilweise war zur Antragstellung ein*e Steuerberater*in erforderlich, was sie Geld kostete, ohne dass die Bewilligung der finanziellen Mittel feststand.[2]

Den finanziellen Ansprüchen des Privatkapitals – auch denen von Vermietern – gewährten die politisch Verantwortlichen generell Vorrang: „Es gab fast keine Bemühungen, eine faire Verteilung der Pandemie-Lasten zwischen denen mit Ansprüchen auf Kapitaleinkommen und der produzierenden Wirtschaft sowie der Bevölkerung herbeizuführen.“[3] Aus dem schon im März 2020 geschaffenen Wirtschaftsstabilisierungsfonds des Bundes mit einem Volumen von 600 Mrd. Euro erhielten größere Unternehmen umfangreiche Finanzspritzen. Zu den Konzernen, deren Anträge bewilligt wurden und die Staatshilfen in erheblichem Umfang bekamen, gehörten die Lufthansa, TUI, Adler Modemärkte und Galeria Karstadt Kaufhof. Offenbar wurden die staatlichen Mittel nicht nach dem Bedarfsprinzip, sondern nach dem neoliberalen Leistungsprinzip vergeben.[4] Als „Leistungsträger“ galten dabei erfolgreiche Unternehmer. Wer für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ produktiv tätig war, wurde großzügig bedacht, wer schon vor der Pandemie in finanziellen Schwierigkeiten steckte, ging hingegen teilweise leer aus. Bezieher*innen von Hartz IV sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurden – wenn überhaupt – nur am Rande berücksichtigt. Sie erhielten erst im Mai 2021, also 14 Monate nach Beginn der Pandemie, 150 Euro als Einmalzahlung. Zum 1. Januar 2022 stiegen die Regelbedarfe (auch für Kinder und Jugendliche) trotz der anrollenden Teuerungswelle bei Nahrungsmitteln und Energie um weniger als ein Prozent.[5]

Selbst die „Sozialschutz-Pakete“ der großen Koalition wiesen eine verteilungspolitische Schieflage auf. Während der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Coronakrise geschädigte Soloselbstständige erleichtert wurde, indem man die strenge Vermögensprüfung für sie vorübergehend aussetzte und ein halbes Jahr lang die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte, gab es für Menschen im Langzeitbezug selbst dann keinen Ernährungszuschlag, wenn ihre Kinder während der Kita- und Schulschließungen zuhause verpflegt werden mussten, anstatt wie sonst kostenfrei die Gemeinschaftsverpflegung in einer Betreuungseinrichtung zu nutzen. Auf diese Weise hat der Staat mit dazu beigetragen, während der Pandemie die Ungleichheit noch zu verschärfen.

In dieser Situation verstärkt nun die höchste Inflationsrate seit Jahrzehnten die ohnehin deutlich ausgeprägten Polarisierungseffekte und Spaltungstendenzen – die Zerklüftung der Gesellschaft schreitet weiter voran. Und obwohl auf der Hand liegt, dass Menschen mit wenig Geld von steigenden Kosten für den Lebensunterhalt besonders betroffen sind, versuchte das ifo-Institut im Spätherbst 2021, als die Geldentwertung medial erstmals hohe Wellen schlug, mit einer Studie zu belegen, dass reichere Haushalte von der Inflation stärker getroffen würden als ärmere. Mitarbeitende des Instituts hatten sechs Einkommensklassen (von unter 1300 Euro bis 5000 Euro und mehr Monatsnettoeinkommen) gebildet und die Preise von deren unterschiedlich zusammengesetzten Warenkörben berechnet. Demnach waren die Kaufkraftverluste bei den ärmeren Haushalten im Oktober 2021 mit 4 Prozent deutlich niedriger als bei reicheren Haushalten, für die sich 4,8 Prozent ergaben.[6]

Doch dieser Rechnung liegt ein methodischer Kardinalfehler zugrunde, der fast immer gemacht wird, wenn man in Deutschland die Lage von Armen und Reichen miteinander vergleicht: So richtig es ist, die Armut in einer kapitalistischen Gesellschaft am geringen Einkommen der Menschen festzumachen, so falsch wäre es, den Reichtum auf ein hohes Einkommen zu verkürzen. Denn für diesen ist ein großes (Kapital-)Vermögen konstitutiv, das Arme gar nicht haben. Es ist absurd, so zu tun, als spiele das – in der Regel hohe – Einkommen für Reiche die Hauptrolle.

Wohlhabende sind überwiegend noch reicher geworden, wohingegen die Zahl der Armutsbetroffenen noch größer geworden ist.

Gerade unter dem Einfluss von Inflationsprozessen entwickeln sich die Einkommen und Vermögen der einzelnen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich, wenn nicht gegensätzlich. So hat das aus Immobilien, Unternehmen(santeilen) und Edelmetallen (Gold) bestehende Sachvermögen der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen vor und während der Covid-19-Pandemie im Wert stark zugelegt. Nicht zuletzt deshalb sind Wohlhabende überwiegend noch reicher geworden, wohingegen die Zahl der Armutsbetroffenen aufgrund verbreiteter Einkommensverluste eines Großteils der arbeitenden Bevölkerung – bei abhängig Beschäftigten wie bei Solo- und Scheinselbstständigen – noch größer geworden ist.

Die Ökonomin Mechthild Schrooten weist darauf hin, dass jede Inflation einerseits Gewinner*innen und andererseits Verlierer*innen erzeugt: „Die ärmeren Haushalte zählen zu den deutlichsten Verlierer:innen der langfristigen Preisentwicklung; Inflation verschärft Armut.“[7] Reiche erleiden durch die Inflation zwar auch Kaufkraftverluste. Diese fallen aber kaum ins Gewicht, weil ihr Sach-, Immobilien- und Betriebsvermögen nicht an Wert einbüßt – aber auch, weil der Anteil an notwendigen Konsumausgaben an ihrem Gesamtbudget wesentlich geringer ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch die Deutsche Bundesbank: Sie geht von einer höheren Gesamtrendite der oberen Verteilungshälfte aus, weil das Immobilienvermögen von 2009 bis Anfang 2022 neben Aktien im Durchschnitt die höchste reale Rendite aller Vermögenskomponenten verzeichnet und das Betriebsvermögen für das obere Prozent der Vermögensverteilung zusätzlich einen merklichen Beitrag geleistet habe. Dies habe zur Folge, „dass sich der renditesenkende Effekt der Inflation insbesondere am unteren Ende der Vermögensverteilung bemerkbar macht. Das gesamte Vermögen dieser Haushalte besteht zu einem Großteil aus niedrig verzinsten Einlagen. Folglich führen hohe Inflationsraten vor allem dort leichter zu negativen realen Vermögensrenditen.“[8]

Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gab die Spanne der haushaltsspezifischen Inflationsraten für März 2022 mit 1,9 Prozentpunkten an: „Sie reicht von 6 Prozent für einkommensstarke Alleinlebende bis 7,9 Prozent für einkommensschwache vierköpfige Familien. Noch ausgeprägter ist der Unterschied zwischen der kombinierten Belastung durch die Preise von Nahrungsmitteln, Haushaltsenergie und Kraftstoffen mit 2,6 Prozentpunkten, wobei einkommensschwache Familien einen Inflationsbeitrag von 5,9 Prozentpunkten verzeichnen, verglichen mit 3,3 Prozentpunkten im Falle von einkommensstarken Alleinlebenden.“[9] Selbst das unternehmernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) räumt in einer Langzeitauswertung ein, „dass die einkommensärmeren Haushalte tendenziell eine höhere Inflation haben als einkommensreichere Haushalte“.[10] Insgesamt kommt das IW im Durchschnitt für die Fünfjahreszeiträume der vergangenen 25 Jahre auf eine Inflationsrate von 6,6 Prozent, während die Haushalte mit den höchsten Einkommen nur eine Inflationsrate von 5,5 Prozent aufweisen.

Ein wesentlicher Inflationstreiber sind neben Nahrungsmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfs dabei die Preise für Kraftstoffe und Haushaltsenergie, die infolge des Ukraine-Krieges seit diesem Frühjahr rasant steigen. Jedoch standen bei den „Entlastungspaketen“, die von der Ampel-Koalition im Februar und März geschnürt wurden, um die finanziellen Belastungen der gestiegenen Energiekosten für private Haushalte und Wirtschaft abzufedern, Unternehmen, Erwerbstätige und Steuerpflichtige im Vordergrund – wie schon bei den staatlichen Finanzhilfen für Pandemiegeschädigte.

Das erste, umfangreichere Entlastungspaket bestand im Wesentlichen aus steuerpolitischen Maßnahmen: Rückwirkend zum Jahresbeginn stieg der Arbeitnehmerpauschbetrag um 200 auf 1200 Euro, der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer um 363 auf 10 347 Euro und die Entfernungspauschale für Fernpendler*innen (ab dem 21. Kilometer) sowie die Mobilitätsprämie auf 38 Cent. Wohngeldbezieher*innen erhalten einen einmaligen Heizkostenzuschuss in Höhe von 270 Euro (bei einem Haushalt mit zwei Personen: 350 Euro, je weiterem Familienmitglied zusätzliche 70 Euro), Auszubildende und Studierende im Bafög-Bezug 230 Euro. Außerdem entfiel die EEG-Umlage vorzeitig zum 1. Juli, was besonders großen Unternehmen zugutekam.

Das zweite Entlastungspaket beinhaltete die Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe für drei Monate, ein auf denselben Zeitraum befristetes, bundesweit gültiges Neun-Euro-Monatsticket für den Öffentlichen Personennahverkehr, das als soziales Trostpflaster für Menschen ohne Auto wirkte, eine sehr kostenträchtige Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro für alle unbegrenzt steuerpflichtigen Erwerbstätigen, einen weiteren Kinderbonus in Höhe von 100 Euro als zusätzliche Einmalzahlung für Familien sowie Einmalzahlungen in Höhe von 200 Euro für Transferleistungsbezieher*innen und in Höhe von 100 Euro für Bezieher*innen von Arbeitslosengeld I.

Erheblich weniger Aufmerksamkeit erregten Entlastungen für die Wirtschaft, die im Vierten Corona-Steuerhilfegesetz enthalten waren, darunter die erweiterte Verlustverrechnung für Unternehmer sowie die Verlängerung der degressiven Abschreibung um ein Jahr, steuerfreie Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld und die Steuerbefreiung des Corona-Pflegebonus bis zu 4500 Euro. Darüber hinaus wurde ein „Wirtschaftspaket“ für vom Ukraine-Krieg und/oder von den Sanktionen betroffene Unternehmen geschnürt, darunter ein KfW-Kreditprogramm für kurzfristige Liquidität, Bund-Länder-Bürgschaftsprogramme, ein Finanzierungsprogramm für durch hohe Sicherheitsleistungen gefährdete Unternehmen und ein Hilfsprogramm für die energieintensive Industrie.

Demgegenüber erfährt die Energiearmut, von der man spricht, wenn die Kosten für Haushaltsenergie mehr als zehn Prozent des Nettoeinkommens verschlingen, noch immer zu wenig Beachtung – hier sind dringend gezieltere und höhere Entlastungen nötig: Die galoppierenden Energiekosten zementieren die materielle Ungleichheit hierzulande weiter, was durch die bisherigen Entlastungspakete des Bundes nicht ansatzweise kompensiert wird. Vielmehr ist zu befürchten, dass sich Wohn-, Energie- und Ernährungsarmut zur neuen Sozialen Frage der Bundesrepublik entwickeln. Wenn sich die Teuerungswelle verstärkt und verstetigt, dürften insbesondere viele Familien – bis weit in die Mittelschicht hinein – einen wesentlichen Teil ihres Einkommens für die Warmmiete ausgeben.

Stefan Bach und Jakob Knautz vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommen zu dem Schluss, dass ärmere Haushalte trotz der zwei Entlastungspakete des Bundes durch die steigenden Energiepreise deutlich stärker belastet werden als wohlhabende Haushalte: „Bei Haushalten mit niedrigen Einkommen sind die hohen Belastungen besonders gravierend, da sie zumeist nur geringe Möglichkeiten haben, ihr Konsumbudget durch weniger Sparen, Auflösung von Vermögen oder Verschuldung auszuweiten.“[11] Bach und Knautz fordern daher zu Recht, dass sich staatliche Entlastungsprogramme stärker auf die unteren Segmente der Einkommensverteilung konzentrieren sollten.

Die verteilungspolitische Schlagseite der bisherigen Entlastungspakete des Bundes ist unübersehbar. Sie kommen nur teilweise Privathaushalten zugute und unter diesen vornehmlich den einkommensstarken: Mehr als die Hälfte des Entlastungsvolumens ist für Erwerbstätige reserviert, die von Steuerermäßigungen profitieren. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband kritisiert die „einkommensproportionale Entlastungswirkung“ wohlhabender und reicher Haushalte, etwa durch die auf drei Monate befristete Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe zum 1. Juni sowie die vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli, mit der diejenigen die höchste absolute Entlastung erfahren, die den höchsten Verbrauch haben: „Es sind die Haushalte mit den großen Wohnungen oder Einfamilienhäusern, die besonders profitieren, die mit dem zusätzlichen Kühlschrank, der guten EDV-Ausstattung bis in die Kinderzimmer hinein, mehreren Fernsehern oder vielleicht auch der Heimsauna im Keller.“[12]

Steuerentlastungen, wie sie Finanzminister Christian Lindner vorschlägt, nützen Geringverdiener*innen wenig und Transferleistungsbezieher*innen gar nichts, weil sie kaum bzw. gar keine Einkommensteuer zahlen. Zudem profitieren wiederum jene am stärksten, die das meiste Geld zur Verfügung haben. Vergleichbares gilt für eine Senkung der Mehrwertsteuer, sofern sie überhaupt an die Verbraucher*innen weitergegeben wird: Nominal am meisten entlastet werden durch die befristete Senkung der Mehrwertsteuer auf Erdgas von 19 auf 7 Prozent jene Haushalte, die viel davon verbrauchen, weil sie ein Haus oder eine große Wohnung heizen. Auch breit streuende Pro-Kopf-Zahlungen an einen großen Personenkreis wie die Energiepreispauschale sind wenig hilfreich, weil nicht passgenau. Auszubildende, Studierende und Rentner*innen erhalten sie gar nicht. Transfers für bedürftige Haushalte wie der Heizkostenzuschuss oder die Einmalzahlungen für Menschen in der Grundsicherung sind gleichfalls nur begrenzt geeignet, die Hauptbetroffenen zu entlasten. Denn sie bekämpfen zwar die Symptome, beseitigen jedoch nicht die Ursachen.

Obwohl das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung die Entlastungspakete als „insgesamt sozial ausgewogen“ bezeichnet, weil unter den Haushalten von Erwerbstätigen besonders diejenigen mit einem geringen oder mittleren Einkommen entlastet würden, kritisiert es Polarisierungseffekte einzelner Maßnahmen: „Eine soziale Schieflage ist bei der Behandlung von Nichterwerbstätigen wie Rentnerinnen und Rentnern zu beobachten: Hier fällt die Entlastung auch bei Haushalten mit sehr niedrigem Einkommen äußerst gering aus.“[13]

Die Volkswirtin Irene Becker hat darauf hingewiesen, dass der Lebensstandard von Grundsicherungsbezieher*innen trotz der Entlastungspakete sinkt. Dies gilt sogar für Betroffene, deren Nachwuchs im Vorgriff auf die von der Ampel-Koalition versprochene Kindergrundsicherung ab dem 1. Juli den Sofortzuschlag in Höhe von 20 Euro monatlich erhält, was für den Rest des Jahres immerhin 120 Euro ergibt. „Damit werden aber, abgesehen von Kindern unter sechs Jahren, nicht einmal die inflationsbedingten Verluste von 2021 und 2022 ausgeglichen – zur Verbesserung von Chancen und zum Abbau von Kinderarmut ist der Sofortzuschlag also viel zu gering.“[14]

Liquiditätshilfen und Entlastungspakete können zwar zur Bewältigung akuter Notlagen während einer Wirtschaftskrise, einer Pandemie oder einer Inflation beitragen. Sie verhindern aber nicht, dass finanzschwache Bevölkerungsgruppen durch solche Krisen immer wieder in Schwierigkeiten geraten. Anstatt nur die Folgen der Ungleichheit unzureichend zu bekämpfen, müssen deshalb endlich die bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen angetastet werden.

Die amtierende Bundesregierung nimmt jedoch mit FDP-Finanzminister Lindner eine weitere Spaltung des Landes bewusst in Kauf: Anstatt für die von Corona bis zu den negativen Folgen des Ukraine-Krieges angehäuften Krisenkosten endlich jene in die Pflicht zu nehmen, die profitiert haben und nach wie vor fernab von Existenzsorgen im Überfluss leben, tragen die ungedeckelten, durch die beschlossene Gasumlage weiter steigenden Energiekosten alle Haushalte – ganz egal, ob ihnen 700 oder 7000 Euro im Monat zur Verfügung stehen. Hieran muss sich dringend etwas ändern, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit verringert und niemand mehr in Existenznot gerät. Andernfalls riskiert die rot-grün-gelbe Koalition soziale Verwerfungen mit unabsehbaren Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

[1] Vgl. Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie, in: „Blätter“, 3/2021, S. 45-48, und ders., Das Virus der Ungleichheit, in: „Blätter“, 6/2021, S. 13-16.

[2] Vgl. Florian Kiel, Ohne Lobby: Selbstständige in der Coronakrise, in: „Blätter“, 7/2020, S. 13-16.

[3] Norbert Häring, Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen, Köln 2021, S. 24.

[4] Vgl. hierzu ausführlicher: Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Weinheim und Basel 2022, S. 119 ff.

[5] Vgl. Wiebke Schröder und Jonas Pieper, Bürgergeld statt Hartz IV: Die ignorierte Armut, in „Blätter“, 2/2022, S. 37-40.

[6] Vgl. Sascha Möhrle und Timo Wollmershäuser, Zu den Verteilungseffekten der derzeit hohen Inflationsraten, in: „ifo Schnelldienst digital“, 16/2021, 16.11.2021, S. 4.

[7] Mechthild Schrooten, Inflation und Inflationsangst, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 18-19/2022, S. 30.

[8] Eine verteilungsbasierte Vermögensbilanz der privaten Haushalte in Deutschland – Ergebnisse und Anwendungen, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Monatsbericht 7/2022, S. 37.

[9] Sebastian Dullien und Silke Tober, IMK Inflationsmonitor. Hohe Unterschiede bei haushaltsspezifischen Inflationsraten: Energie- und Nahrungsmittelpreisschocks belasten Haushalte mit geringem Einkommen besonders stark, „IMK Policy Brief 121“, April 2022, S. 1.

[10] Vgl. Markus Demary, Cornelius Kruse und Jonas Zdrzalek, Welche Inflationsunterschiede bestehen in der Bevölkerung? – Eine Auswertung auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, in: „IW-Report“, 46/2021, 10.12.2021, S. 17.

[11] Stefan Bach und Jakob Knautz, Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, in: „DIW Wochenbericht“, 17/2022, S. 246.

[12] Ulrich Schneider, Ampel-Entlastungspaket: Das Prinzip Gießkanne, in: „Blätter“, 6/2022, S. 13-16, hier: S. 14.

[13]  Sebastian Dullien, Katja Rietzler und Silke Tober, Die Entlastungspakete der Bundesregierung. Sozial weitgehend ausgewogen, aber verbesserungsfähig, in: „IMK Policy Brief“ 120, April 2022, S. 1.

[14]  Irene Becker, Lebensstandard von Grundsicherungsbeziehenden sinkt – trotz Entlastungspaket, in: „Soziale Sicherheit“, 6/2022, S. 231.

In der September-Ausgabe zeigen Susanne Götze und Annika Joeres, warum der deutsche Wald in Gefahr ist – und was wir dagegen tun können. Bee Wilson beleuchtet die verheerenden Auswirkungen der Produktion von Palmöl, dem meistgenutzten Fett der Welt. Nancy Fraser analysiert die selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus. Thomas Greven beschreibt, wie die Republikaner die US-Demokratie schleifen. Michael R. Krätke entlarvt Putins Rede von der Unwirksamkeit westlicher Sanktionen als Bluff. Anna Jikhareva erkennt in den ukrainischen Wiederaufbauplänen eine neoliberale Handschrift. Und Ulrich Brand sieht im chilenischen Verfassungsprozess einen Hoffnungsschimmer in dystopischen Zeiten.

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